„Bunter Ball“ – Von der Überzeugung, Vielfalt spielerisch zu vermitteln
Einatmen. 22 Kinder und zwei Erzieherinnen sitzen im Kreis inmitten der Turnhalle der Grundschule Auf dem Kamp in Bochum und hängen Greta Tacke an den Lippen. Wie vor jeder Arbeitsgemeinschaft (AG) erklären die Coaches von In safe hands e.V., was sie vorhaben und welches Spiel heute zuerst gespielt wird. Ein paar Meter entfernt von ihnen stehen vier hölzerne Kisten mit bunten Bällen – die Bälle in jeder Kiste haben eine andere Farbe. Diese Farben stehen für den Gemütszustand, in dem sich die Kinder am heutigen Tag befinden. Gelb steht für glücklich, rot für wütend, grün für traurig und blau für müde.
Ausatmen. Auf Greta Tackes Kommando holt sich jedes Kind einen Ball in der Farbe, die zum Gemütszustand passt. Es läuft spanische Kindermusik. Dass sie diese nicht verstehen, ist den Kindern sichtbar egal. Sie tollen herum, springen, lachen – bis die Musik stoppt. Dann finden sich die Kinder zusammen und setzen sich hin. Nun nicht im Kreis, sondern zu zweit gegenüber. Sie sollen darüber sprechen, warum sie sich für die Farbe des Balles, den sie in ihren kleinen Händen halten, entschieden haben. Sie sollen erklären, warum sie sich so fühlen, wie sie sich gerade fühlen.
Das Spiel heißt „Bunter Ball“ und ist das erste Spiel jeder AG-Stunde. „Bunter Ball“, genau wie das Projekt, mit dem In safe hands an insgesamt sechs Schulen in Bochum und Herne sowie zwei Schulen in Köln unterwegs ist. Die Organisation begleitet Klassen mit dem Projekt die gesamte Grundschulzeit. In Grundschulen deshalb, weil die Klassen dort die Gesellschaft und die kulturelle Heterogenität wahrheitsgemäß abbilden. Weil die Kinder noch nicht selektiert wurden wie in der weiterführenden Schule. Die Bochumer Grundschule Auf dem Kamp war die Pilotschule – da hat im vergangenen Sommer alles begonnen.
„Bunter Ball“ ist das derzeit einzige Projekt der Organisation in Bochum und Köln. Darauf liegt der gesamte Fokus. Weil es das Projekt ist, das „mit seiner wissenschaftlichen Tiefe und seiner Wirkungsorientierung unserem Verständnis eines sportpädagogischen Projektes am besten gerecht wird“, sagt Jonas Ermes. Der ehemalige Fußballprofi ist gemeinsam mit dem aktuellen Bundesliga-Torhüter Andreas Luthe Gründer der Organisation und sitzt in einer Ecke der Turnhalle der Bochumer Grundschule und beobachtet.
„Bunter Ball“ steht exemplarisch für die Entwicklung, die In safe hands genommen hat. Die Organisation will durch Sport gesellschaftliche Veränderung bewirken. Über allem, was sie macht, steht die Vision: ein vorurteilsfreies und wertschätzendes interkulturelles Zusammenleben zu schaffen. Und wo sollte man damit anfangen, wenn nicht bei den Kindern?
Das In safe hands-Team will die emotionalen, sozialen und interkulturellen Kompetenzen der Kinder fördern und nutzt den Sport als Lernmedium. Als die Idee für das Projekt vor zwei Jahren reifte, stellten sie sich die Frage: Wie musst du ein Projekt aufbauen, damit du am Ende Wirkung erzeugst? Damit man es nach einer gewissen Anzahl an Jahren Projektumsetzung quantitativ und qualitativ evaluieren kann? Damit man es nach und nach skalieren und großflächiger wirken kann? Um das sicherzustellen, hat In safe hands ein wissenschaftlich fundiertes Konzept entwickelt und testet dieses Schritt für Schritt auf Umsetzbarkeit und Vervielfältigungsmöglichkeiten.
„Unser Ziel ist es, die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder ganzheitlich wirksam zu fördern. Und es ist dann unser Anspruch, diese Wirkung allen Leuten, die uns unterstützen und fördern, transparent nachzuweisen, ihnen zu zeigen, dass ihr Invest sinnvoll eingesetzt wird“
„Bunter Ball“ soll eine Wirkungstiefe schaffen, die In safe hands, bevor das Projekt nach neun bis zwölf Monaten Entwicklungszeit gestartet ist, nicht hatte. „Unser Ziel ist es, die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder ganzheitlich wirksam zu fördern. Und es ist dann unser Anspruch, diese Wirkung allen Leuten, die uns unterstützen und fördern, transparent nachzuweisen, ihnen zu zeigen, dass ihr Invest sinnvoll eingesetzt wird“, erklärt Ermes. Es gibt ein eigenes Kompetenzmodell und ein detailliertes Curriculum, das dahintersteht – das hat Greta Tacke in ihrer Masterarbeit entwickelt. Demnächst wird eine der drei Werkstudierenden, die an dem Projekt mitarbeiten, das Modell in ihrer Masterarbeit noch einmal aus einer sonderpädagogischen Perspektive untersuchen und mit den natürlichen Entwicklungsschritten der Kinder abgleichen. „Unser Kompetenzmodell unterliegt also ständiger Prüfung. Wir gehen einen neuen Weg, weil es bisher noch nicht so viele Studien dazu gibt, wie man nicht nur die sozialen, sondern auch die emotionalen Kompetenzen von Kindern über Sport schult“, sagt Ermes.
Die Übungen entwickeln die drei Werkstudierenden. Sie treffen sich einmal in der Woche mit Ermes und Tacke und besprechen, welche Übungen sich für welche Themen eignen. Einer der Werkstudierenden, der am Psychologischen Institut der Sporthochschule Köln arbeitet, schlägt die Rohübungen vor. Diese werden dann in pädagogische Geschichten und Spiele umgeschrieben, sodass die Coaches sie mit den Kindern altersgerecht umsetzen können.
Für jedes Schuljahr gibt es einen Übungskatalog, der für das erste Schuljahr ist mehr als 180 Seiten lang. Er ist in die Ober- und Unterthemen des Curriculums aufgeteilt, für jedes Thema gibt es verpflichtende Spiele, die während der Pilotphase im vergangenen Schuljahr besonders gut bei den Kindern angekommen sind oder Grundlagen für weitere Spiele bieten. Aus den weiteren Übungen pro Thema können die Coaches eine eigene Auswahl treffen. So kann jeder Coach eine eigene Reihe zusammenstellen und diese an seine Klasse anpassen. „Manche Klassen sind musikaffin und lieben Spiele mit musikalischen Elementen. Wilde Klassen benötigen ein Gleichgewicht aus Ruhe und Aktion“, erklärt Greta Tacke.
In der heutigen AG spielen die Kinder nach „Bunter Ball“ das Spiel „Zauberblume“ – ein Interventionsspiel. Ein solches wird immer als zweites gespielt. Die Interventionsspiele passen zu den Themen, die die Klassen pro Schuljahr durchlaufen. Diese und die gemeinsame Reflexion sollen von Jahr zu Jahr expliziter werden, mit einem klarer werdenden Auftrag für den Alltag.
Neben den drei Werkstudierenden, Tacke und Ermes arbeiten in dem Projekt derzeit bis zu elf Coaches. Sie sind Studierende und kommen aus ganz unterschiedlichen Bereichen, von Physiotherapie über Sonderpädagogik bis hin zu Sportpsychologie. Ermes und Tacke hatten lange diskutiert, wer für das Projekt geeignet ist und worauf es ankommt. Sie kamen zu dem Entschluss, dass es nicht auf den akademischen Hintergrund ankommt, sondern auf Persönlichkeit. „Wir wollen von Herz zu Herz mit den Kindern sprechen“, sagt Ermes.
Deshalb haben sie solche Coaches ausgesucht, die die Werte und die Überzeugung von In safe hands widerspiegeln. Wichtig ist Ermes aber auch, dass die neuen Coaches neuen Input liefern dürfen, dass die Organisation ein Stück weit flexibel ist, kein festes Dogma hat. „Deshalb könnte es sein, dass wir in einem Jahr hier sitzen und unsere Mission ein wenig anders aussieht“, sagt er. Jeder neue Mitarbeiter habe die Möglichkeit, seine Haltung miteinzubringen. Jeder soll einen Sinn in seinem Handeln sehen und spüren können, wie er täglich zur Vision des Vereins beiträgt. „Nur wer sich selbst wertgeschätzt fühlt, kann diese Wertschätzung auch den Kindern in den Projekten entgegenbringen und authentisch für unsere Themen einstehen“, sagt Jonas Ermes. „Und nur wer sich bei uns wohlfühlt, kann sich nachhaltig für seine Arbeit und die gemeinsame Vision begeistern.“
Und „Bunter Ball“ trifft die Vision von In safe hands und den Bedarf aus Sicht von Jonas Ermes derzeit einfach am besten. Was aber nicht heißt, dass sich das nicht ändern kann. Das gehört zur Flexibilität dazu. „Wir laufen nicht mit Scheuklappen durch die Gegend. Wenn wir sehen, dass es einen neuen akuten Bedarf gibt in der Gesellschaft oder im System Schule, sehen wir uns in der Lage, darauf zu reagieren“, sagt Ermes. Dann würde er mit den Coaches ein neues Projekt entwickeln oder „Bunter Ball“ weiterentwickeln.
Damit „Bunter Ball“ zukünftig auf jeden Fall weiterwächst, arbeitet In safe hands aktuell an Skalierungsstrategien. So können die Schulungen, mit denen Greta Tacke neue Coaches auf ihre Rolle bei In safe hands vorbereitet, zu umfassenderen Multiplikatoren-Schulungen weiterentwickelt und direkt Mitarbeitenden der Ganztagsträger angeboten werden. Zudem kann sich In safe hands vorstellen, mit gleichgesinnten Organisationen in anderen Städten zusammenzuarbeiten und das Projekt in Kooperationen umzusetzen. So müssten nicht überall eigene, neue Strukturen aufgebaut werden. „Es ist schon unser Ziel, zu wachsen. Weil wir denken“, erklärt Ermes abschließend, „dass das Projekt Sinn macht und über Bochum, Herne und Köln hinaus wirken sollte.“
Die Fotos stammen von Sarah Rauch und Tim Kramer